Das Coronavirus und die EU

Welche Rolle hat die Europäische Union (EU) bislang in der Corona-Krise gespielt? Welche Rolle kann sie spielen? Und wie wirkt sich die Ausbreitung des Coronavirus auf die innereuropäischen und internationalen Beziehungen der EU aus? Campus.kn hat mit Prof. Dr. Dirk Leuffen über die Auswirkungen der Corona-Krise in der EU gesprochen. Dirk Leuffen ist Leiter der Arbeitsgruppe für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt internationale Politik am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft der Universität Konstanz sowie Principal Investigator am Konstanzer Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ (EXC 2035).
© S. Hermann und F. Richter, Pixabay

Wie würden Sie die Reaktion der EU auf die Corona-Krise auf politischer Ebene einordnen?

Die Europäische Union durchlebt gerade eine Zerreißprobe: Die schon während der Eurozonenkrise zu Tage getretene Spaltung zwischen nördlichen und südlichen Mitgliedsstaaten hat sich in der Corona-Krise verschärft. Insbesondere im Süden wird ein Mangel an Solidarität beklagt und ein kurzfristiges Schielen auf vermeintliche nationale Interessen. Das ist nachvollziehbar denn die nördlichen und östlichen Mitgliedsstaaten haben etwa ohne vorherige Konsultationen ihre Grenzen geschlossen und auch eher wenig medizinische Hilfe geleistet – tatsächlich sind diese aber auch sehr mit ihrer eigenen Situation beschäftigt.

Die EU als solche hat nur begrenzte Möglichkeiten, im Gesundheitsbereich aktiv zu werden – und doch wird übersehen, dass Europa auch eine Schicksalsgemeinschaft darstellt und sich gerade in schlechten Zeiten Solidarität manifestieren muss. Langfristig könnte das gerade Deutschland Reputation kosten. Gleichzeitig wäre es natürlich falsch zu sagen, die EU habe sich gar nicht bewegt – die Europäische Zentralbank hat vergleichsweise schnell Mittel in Aussicht gestellt und auch die sonst strengen Vorgaben zur Haushaltsdisziplin in der Eurozone wurden gelockert. Die Europäische Kommission legt zudem aktuell ein 100 Milliarden Euro schweres Programm zum Schutz von Arbeitsplätzen und Erwerbstätigen (SURE) vor.

Die EU-Mitgliedsstaaten haben sehr uneinheitlich und individuell auf die Entwicklungen im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus reagiert. Wie ist das Verhältnis zwischen den Entscheidungen, die auf EU-Ebene getroffen werden, und den Entscheidungen auf Ebene der Mitgliedsstaaten zu bewerten?

Das Handlungsrepertoire ist auf der EU-Ebene zunächst vertraglich begrenzt. Auch braucht ein komplexes Mehrebenensystem wie die EU eine gewisse Zeit, um koordiniert auf solche Herausforderungen zu reagieren. Die EU darf sich zudem nicht verschulden – daher rührt auch die Sorge in Ländern wie der Bundesrepublik oder den Niederlanden vor sogenannten „Corona-Bonds“. Gleichzeitig mehrt sich doch in jüngerer Zeit die Zustimmung zu Hilfsmaßnahmen für die besonders krisengeschüttelten Länder, die sich vielfach noch immer nicht von der Eurozonenkrise erholt hatten. Ein Land wie Italien, dessen Verschuldung schon jetzt bei ungefähr 135 Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegt, ist kaum in der Lage den ökonomischen Wiederaufbau allein zu stemmen. Leider wurde auch einmal mehr versäumt, gute Krisenkommunikation zu betreiben – Länder wie Russland und China, die medizinische Hilfe medienwirksam geschickt haben, haben ein besseres Gespür für Public Diplomacy bewiesen als mancher EU-Partner.

Der EU wird gerade kollektives Versagen vorgeworfen, unter anderem auch mit Blick auf Ungarn. Was sagt die Corona-Pandemie über die Handlungsfähigkeit und den inneren Zusammenhalt in der EU aus?

Der Fall Ungarn ist sicherlich besonders: Einmal mehr dehnt die Regierung Orban exekutive Ermächtigung weit über das Maß aus, das den fundamentalen Normen und Werten liberaler Demokratien entspricht. Während normaler Zeiten hätte das ungarische Verhalten sicherlich noch stärkere Sanktionen nach sich gezogen, doch überwiegen aktuell verständlicherweise andere Sorgen im europapolitischen Diskurs.

Wird die Corona-Krise Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen zwischen der EU und ihren internationalen Partnern haben?

Die EU ist aktuell noch mit sich selbst beschäftigt, gleichsam werden auch die Sorgen etwa der afrikanischen Partner wahrgenommen, für die die Ausbreitung des Coronavirus ja ebenfalls ein riesiges Problem darstellt. Die Beziehungen zu Afrika standen vor der Krise recht hoch auf der Prioritätenliste und es bleibt zu sehen, ob die EU aktuell ihren Ansprüchen gerecht werden kann. Auch hier muss natürlich die geostrategische Dimension beachtet werden – welche Rolle will die EU in der Weltpolitik in der Zukunft spielen?

Was ist mit den Beziehungen innerhalb der EU? Werden wir nach der Überwindung des Coronavirus einfach zum Status Quo zurückkehren (können)?

Für den Mai hatte die Europäische Kommission die Einberufung einer Konferenz über die Zukunft Europas geplant. Während die aktuellen Ereignisse die offiziellen Gespräche darüber etwas ins Hintertreffen geraten lassen, ist meines Erachtens die Diskussion zwischen den Bürgern stark entbrannt: Ist die EU mehr als ein Binnenmarkt und was ist ihre Finalität? Wie solidarisch wollen die Partner tatsächlich sein – und gerade bei der Corona-Krise geht es nicht nur ums Geld, sondern tatsächlich auch um Leben. Auch die Bundesrepublik muss sich darüber klarwerden, welche Rolle sie in Europa spielen will. Aktuell wird tatsächlich diskutiert, ob Eurobonds auch ohne Deutschland, die Niederlande und Österreich eingerichtet werden sollten. Das wäre eine Neuerung in Bezug auf die differenzierte Integration, denn in der Vergangenheit war Deutschland bei wichtigen Maßnahmen immer vorne mit dabei.

Wie wird die EU in sechs Monaten aussehen? Eröffnet das Coronavirus vielleicht auch neue Chancen und Möglichkeiten?

Ja, die oben angesprochenen Debatten erscheinen mir wichtig, denn die Diskussion über die Zukunft Europas kann nicht ohne die Bürger erfolgen. Der demokratische Willens- und Entscheidungsfindungsprozess ist angestoßen und während der Ausgang – wie üblich – ungewiss bleibt, kann ein solch radikaler Schock wie Corona doch zur Findung neuartiger Lösungen beitragen. Insgesamt unterstreicht die aktuelle Krise die enge globale Verwobenheit, die eine zentrale Grundlage internationaler Kooperation bildet.

In einer Interviewreihe informieren Expertinnen und Experten der Universität Konstanz aus verschiedenen Fachbereichen sowie ihres Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ über aktuelle Fragestellungen in Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus.


 

Tullia Giersberg

Von Tullia Giersberg - 07.04.2020