Zu neu für die Fachwelt

Was tun, wenn Ihre wissenschaftliche Entdeckung einfach nicht geglaubt wird? Physiker Alfred Leitenstorfer schildert, wie ein neuer Ansatz in der Fachwelt auf große Skepsis stieß – und wie er vorging, um sie letztlich zu überzeugen.
© Universität Konstanz, Dreisatz

Stellen Sie sich vor, Sie machen eine große Entdeckung – und niemand glaubt Ihnen.

Sie haben etwas so radikal Neues herausgefunden, so abseits der gängigen Lehrmeinung, dass die Fachwelt es nur schwer glauben kann. Sie haben aus Ihrer Sicht überzeugende Ergebnisse in der Hand – und trotzdem finden Sie keine Zustimmung.

Der Konstanzer Physiker Alfred Leitenstorfer stand vor einer sehr ähnlichen Situation. Als es ihm 2015 gelang, sogenannte Vakuumfluktuationen direkt experimentell nachzuweisen, wusste er bereits im Vorfeld, dass die Fachwelt dies kaum akzeptieren würde. Vakuumfluktuationen sind spontan entstehende und wieder zerfallende, „virtuelle“ Teilchenpaare oder Felder. Aufgrund der quantenphysikalischen Unschärfe ist es möglich, dass diese „virtuellen Entitäten“ entstehen, indem sie sich Energie und Impuls sozusagen „leihen“. In der Physik sind diese Phänomene zwar als theoretisches Konzept etabliert, aber dass man sie tatsächlich auch direkt experimentell sehen könnte – dies schien unmöglich.

Ein Verdacht erhärtet sich

2013 hatte Alfred Leitenstorfer erstmals den Verdacht, dass ein direkter experimenteller Nachweis der Fluktuationen entgegen aller Lehrbücher doch möglich sein müsste. „Eine hemdsärmelige Vorstellung, weitgehend intuitiv, die sich weitgehend als richtig herausgestellt hat“, so Leitenstorfer.

„Viele haben gesagt: Das kann nicht sein! Das, was am Ende am Detektor einen Effekt auslöst, müsse immer ein reales Teilchen sein – und nicht diese virtuellen Anregungen. Vollkommen richtig! Das bedeutet aber nicht, dass reale Teilchen, die man detektiert, nicht unmittelbare Information über die Vakuumfluktuationen tragen können“, skizziert Leitenstorfer die grundlegende Idee. Es sind also nicht die Vakuumfluktuationen selbst, die am Ende am Messgerät den Klick auslösen. Aber in ihrer Wechselwirkung mit realen Photonen hinterlassen diese virtuellen Teilchen Spuren in der Realität – vorausgesetzt, die raum-zeitliche Auflösung des Messinstruments ist hoch genug.

„Das kann nicht sein!“

Mit seiner Idee war Alfred Leitenstorfer aber zunächst allein auf der Welt. In manchen Büchern über Kern- und Elementarteilchenphysik steht beispielsweise schwarz auf weiß: Es sei nicht möglich, Vakuumfluktuationen nachzuweisen. Aus berufenem Munde bekam Leitenstorfer mehrmals denselben Satz zu hören: „Das kann nicht sein!“ „Da schluckt man erst mal“, gesteht Leitenstorfer. Immer wieder fragte er sich, ob er sich irrte.

„Sicher war ich mir nie. Man kann sich in der Wissenschaft nie wirklich sicher sein. Alles, was uns als Absolutheit der Wissenschaft verkauft wird, finde ich hochgradig gefährlich. Man kann jederzeit eine Überraschung erleben oder man macht einen zusätzlichen Schritt im Verständnis und muss einiges von seiner bisherigen Vorstellung revidieren. Diese Flexibilität sollte man sich als Wissenschaftler immer bewahren.“

Alfred Leitenstorfer

Zwei Jahre und viele schlaflose Nächte später war Leitenstorfer mit seinem Team so weit, die Messungen in die Tat umzusetzen: Sie hatten zwischenzeitlich die notwendigen Konzepte entwickelt und immer weiter verfeinert, um Störfaktoren bestmöglich zu unterdrücken. In Konstanz entstand ein weltweit einzigartiger Versuchsaufbau mit dem Ziel, spontan entstehende Vakuumfelder experimentell nachzuweisen. Die Apparaturen wurden gestartet, das Experiment lief über Tage hinweg. Erste Daten bestätigten den Effekt. Über Monate hinweg verfeinerte Doktorand Claudius Riek den Aufbau immer weiter, und die Effekte wurden sogar noch deutlicher. Das Experiment war gelungen, und der Nachweis war erbracht.

Peer Review unter erschwerten Bedingungen

Mit dem experimentellen Nachweis war es aber noch nicht getan. Sie mussten die Fachwelt überzeugen und das Experiment veröffentlichen. Das erste Paper, welches das Team beim Wissenschaftsverlag Nature einreichte, wurde glatt abgewiesen. Einer der Gutachter beharrte auf dem alten Mantra: Das kann nicht sein! Es sei absolut unmöglich. Die Publikation wurde abgelehnt.

„Und das war‘s dann erstmal.“

Alfred Leitenstorfer

Alfred Leitenstorfer (2.v.l.) und Guido Burkard (3.v.l.) diskutieren Projekte zur Quantenphysik im Zeitbereich mit aktuellen Mitgliedern des SFB 1432 (v.l.): Hannes Kempf, Sarah Hutter (beide "Experiment") und Emanuel Hubenschmid ("Theorie").


Die Wendung brachte ein Konstanzer Kollege: Der theoretische Physiker Guido Burkard beschloss, das Phänomen aus seiner Sicht unter die Lupe zu nehmen. Gemeinsam mit Postdoc Andrey Moskalenko, der heute selbst eine Professur am KAIST in Korea innehat, wurde ein solides theoretisches Fundament für die Experimente entwickelt.

„Diese zusätzliche theoretische Untermauerung – das war, was uns in der Situation entscheidend geholfen hat. Die Theoretiker kamen schnell vorwärts und erhielten quantitative Ergebnisse, die zu meinen qualitativen Überlegungen passten.“

Alfred Leitenstorfer

Nun konnten sie von zwei Seiten aus Evidenz liefern – durch Theorie und Experiment. Sie teilten ihren Befund auf zwei Publikationen auf, die sich gegenseitig stützten. Denn die Theorie und das Experiment in einer Publikation zusammen zu veröffentlichen – „das wäre zu viel gewesen“, ist sich Leitenstorfer sicher.

Zunächst wurde das Manuskript zur Theorie bei Physikal Review Letters eingereicht und zugleich aufs frei einsehbare Repositorium arXiv gelegt. Der Vorteil: „Dann konnten wir in dem Science-Paper, das wir zum experimentellen Nachweis geschrieben haben, daraus zitieren und darauf verweisen. Das war unsere Strategie – und die ist aufgegangen“, schildert Leitenstorfer. Die beiden Wissenschaftsverlage veröffentlichten die theoretische Grundlage und den experimentellen Nachweis – der Rest ist Geschichte.

„Letztlich fand ich den Ausspruch eines amerikanischen Kollegen sehr passend“, blickt Leitenstorfer auf die mühsame Überzeugungsarbeit zurück:

„Wenn man als Wissenschaftler etwas Neues herausbringt, dann sagt die Community zuerst: Das kann nicht stimmen! Wenn die Fachwelt dann wittert, dass doch etwas dran sein könnte, heißt es: So steht’s aber nicht in den Büchern! Und wenn relativ klar wird, dass es doch stimmt: Wir haben es schon immer gewusst!“

Ausspruch eines amerikanischen Kollegen

Wie überzeugt man die Fachwelt?

Dennoch war der Weg von „Es kann nicht stimmen“ zu „Wir haben es schon immer gewusst“ steinig. Was also kann man tun, um die Fachwelt zu überzeugen?

„Ich würde so vorgehen“, empfiehlt Leitenstorfer:

  • „Erst mal selbst alles daransetzen, so viel Evidenz wie möglich zu generieren mit dem engeren Team.
  • Dann würde ich mit Leuten darüber sprechen, denen ich vertraue und von denen ich hoffe, dass sie zusätzliche Aspekte beibringen oder auch ein Korrektiv sein können.
  • Ich habe damals meine Idee zudem auch in Konferenzen vorsichtig eingebracht, zumindest als Ausblick: Es könnte doch möglich sein … Konferenzen sind hilfreich, weil man da ein unmittelbares Feedback bekommt.
  • Und wenn man dann vom Bauchgefühl her sicher genug ist und auch schon erste Ergebnisse hat, sei es theoretischer oder experimenteller Art – dann muss man es irgendwann natürlich veröffentlichen.“

Welche Rolle spielt das Renommee?

Alfred Leitenstorfer gehört weltweit zu den führenden Wissenschaftlern im Bereich der Ultrakurzzeitphysik. Doch hätte man ihm den Nachweis der Vakuumfluktuationen auch abgenommen, wenn er ein junger Postdoc gewesen wäre?

„Mit Sicherheit hat das Renommee das Ganze vereinfacht“, schätzt Leitenstorfer, „allein schon deshalb, weil ich viele Einladungen zu internationalen Konferenzen hatte und vor großem Publikum präsentieren konnte – und zwar ohne mich groß bewerben zu müssen.“ Die Sichtbarkeit war gegeben, und auch der strukturelle Rückhalt war da:

„Wenn man eine ganz neue Idee hat, braucht man etwas mehr Durchhaltevermögen und ehrlich gesagt auch nachhaltige finanzielle Unterstützung. Das ist etwas, was junge Forscher nicht unbedingt immer haben. Andererseits: Im Laufe der Zeit wird dieser Vorteil sehr schnell kleiner. Der Prozess wäre auch mit einer Verzögerung von ein, zwei Jahren gekommen, wenn ich ein junger Nachwuchswissenschaftler gewesen wäre. Es hätte für eine Verzögerung und mit Sicherheit für mehr Kopfzerbrechen und mehr Druck gesorgt. Aber am Ende zählen die Fakten.“

Alfred Leitenstorfer

… und wenn man falschliegt?

Doch was, wenn man danebenliegt? Wenn man gegen alle Windmühlen ankämpfte, nur um am Ende herauszufinden, dass man doch falsch lag? Alfred Leitenstorfer machte selbst die Erfahrung, sich korrigieren zu müssen – nicht beim Nachweis der Vakuumfluktuationen, sondern zwei Jahre später bei einem Folgeexperiment. Der Physiker trat 2017 den Nachweis an, dass Vakuumfluktuationen als „gequetschtes Licht“ auch gezielt beeinflusst, nämlich im Raum umverteilt werden können. Sein Experiment schien erfolgreich und war auch reproduzierbar. Der Effekt war da – „nur war die Interpretation des Effekts nicht richtig“, wie Leitenstorfer zwei weitere Jahre später, 2019, feststellen musste. Er machte seinen Irrtum öffentlich und besserte nach.

„Meine Erfahrung war interessanterweise, dass es gar nicht so schlimm war. Man ist nicht über uns hergefallen, als wir sagten: Dieses Paper stimmt nicht, da müssen wir nochmals ran. Da hat uns niemand schräg angeschaut. Mir war es von Haus aus auch nicht unangenehm, weil es ein Fehler war, der nicht trivial war. Wir haben dadurch sogar fundamental einiges Weitere über die Physik gelernt.“

Alfred Leitenstorfer

An der Umverteilung des gequetschten Lichts und seines Nachweises in der Zeitdomäne arbeitet das Team auch aktuell noch. „Wir wissen heute aus der Theorie ganz genau: Es geht prinzipiell, und wir sind mit Hochdruck dabei, die Experimente dafür aufzubauen – aber man muss dazu die ganze Technologie noch deutlich weiterbringen. Ich bin relativ zuversichtlich, dass uns das im Laufe der nächsten Jahre gelingen wird.“ Risikobehaftete Forschung – also Forschung mit unabsehbarem Ausgang – betrachtet er als grundlegende Aufgabe in der Wissenschaft.

„Schon immer gewusst …“

Seit der ersten Idee, wie virtuelle Teilchen relativ direkt nachgewiesen werden könnten, ist inzwischen ein Jahrzehnt ins Land gegangen. Das Wissen hat sich gesetzt, der Wind hat sich gedreht und die Meinung der Fachwelt sich geändert. „Es wird jetzt keiner mehr sagen: Das kann nicht sein!“, ist Leitenstorfer erleichtert, wenn er auf den mühsamen Weg der Anerkennung zurückschaut. Inzwischen hat auch eine Gruppe an der ETH Zürich ähnliche Experimente in einem etwas anderen Parameterbereich ausgeführt, die komplementäre Informationen liefern und die prinzipielle Konstanzer Idee bestätigen.

Es hat zweifellos Mut gefordert, gegen die vorherrschende Meinung der Fachwelt anzutreten. Aber es hat sich gelohnt – für die Wissenschaft, aber auch für Alfred Leitenstorfer persönlich: „Ich merke, dass ich dadurch zusätzlichen Respekt gewonnen habe.“

Und wenn wir heute kopfschüttelnd darauf zurückblicken, was 2013 noch über die angeblich nicht nachweisbaren virtuellen Teilchen geglaubt wurde, müssen wir uns dann nicht fragen: Haben wir es nicht schon immer gewusst?
 

Jürgen Graf

Von Jürgen Graf - 18.01.2024