Deutsche (miss-)verstehen Ungleichheit

Konstanzer Forschende zeigen mit dem ‚Ungleichheitsbarometer: Die deutsche Bevölkerung schätzt das Ausmaß von Ungleichheit oftmals falsch ein und unterschätzt insbesondere Vermögensungleichheit. Das hat auch politische Konsequenzen.
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Die „Mitte“ ist in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zum Ideal der politischen und sozialen Geometrie geworden. Ein Großteil der Bevölkerung ordnet sich selbst der Mittelschicht zu, obwohl das Ausmaß von ökonomischer Ungleichheit in Deutschland weiterhin beträchtlich ist und tendenziell zunimmt – dies zeigen neue Befragungsdaten des Konstanzer ‚Ungleichheitsbarometers‘. Die individuellen Wahrnehmungen der Verteilung von Einkommen und Vermögen, aber auch der eigenen Aufstiegschancen, weichen erheblich von der Realität ab – mit deutlichen Auswirkungen auf politische Prozesse.

Der Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ finanziert mit dem „Ungleichheitsbarometer“ ein Projekt, in dem die Wahrnehmungen von Ungleichheit und damit zusammenhängende politische Einstellungen in regelmäßigen Abständen erhoben und untersucht werden. In Zusammenarbeit mit dem Berliner Think Tank “Das Progressive Zentrum” werden nun erste Ergebnisse der ersten Befragungswelle veröffentlicht.

Prof. Dr. Marius R. Busemeyer, Sprecher des Exzellenzclusters und einer der Autoren der Studie, fasst zusammen:

© Ines Janas

„Ungleichheit bleibt eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Das ‚Ungleichheitsbarometer‘ zeigt, wie die deutsche Bevölkerung dieses Problem wahrnimmt und welche Lösungen sie sich von der Politik erhofft.“

Prof. Dr. Marius R. Busemeyer, Sprecher des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“

Die Wahrnehmung (und Fehlwahrnehmung) von Ungleichheit hat unmittelbar politische Konsequenzen: Das Ausmaß, in dem Menschen Ungleichheit als Problem wahrnehmen, beeinflusst ihre politischen Präferenzen und damit letztlich auch politisches Handeln.

Prof. Dr. Wolfgang Schroeder, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Progressiven Zentrums, betont die Wichtigkeit dieser Forschung für die öffentliche Debatte: „Damit wir auch in Zukunft gemeinsam gut in Deutschland leben können, brauchen wir eine intensivere öffentliche Debatte über soziale Ungleichheit und wir müssen evidenzbasierte Lösungswege entwickeln. Daher freuen wir uns, dass durch dieses Forschungsprojekt eine wissenschaftliche Grundlage dafür geschaffen wird.“

Das Policy Paper mit ersten Ergebnissen ist auf der Webseite des Progressiven Zentrums verfügbar.

Die wichtigsten Ergebnisse aus dem Policy Paper im Überblick:

Mehrheit wünscht eine gleichere Gesellschaft
Die Bevölkerung nimmt insgesamt eine hohe Ungleichheit im Land wahr, sowohl bei Einkommen und Vermögen als auch auf anderen Gebieten. Diese Wahrnehmungen sind jedoch häufig verzerrt. So ordnet sich ein Großteil der Bevölkerung der Mittelschicht zu, das heißt, Reiche unterschätzen ihre relative Einkommensposition und Arme überschätzen sie. Dadurch wird das Gesamtausmaß von Einkommensungleichheit unterschätzt. Gleichzeitig sehen die Befragten die Gesamtverteilung von Ressourcen wie Einkommen und Vermögen als sehr ungleich an; rund 77 Prozent wünschen sich eine egalitärere Gesellschaft.

Vermögensungleichheit wird unterschätzt
72 Prozent der Befragten halten den Einkommensunterschied zwischen den zehn Prozent Deutschen mit dem höchsten und zehn Prozent mit dem niedrigsten Einkommen für „sehr groß“. die Vermögensunterschiede in den gleichen Segmenten hält mit 65 Prozent der Befragten ein geringerer Anteil für „sehr groß“. Aber: Die Ungleichheit bei den Vermögen ist fast dreimal größer als die bei den Einkommen. Dennoch werden die Unterschiede bei den Einkommen deutlich schärfer wahrgenommen.

Aufstiegschancen werden pessimistisch gesehen
Rund die Hälfte der Befragten glauben nicht an Aufstiegsversprechen. Ein Drittel der Befragten hat, im Vergleich zu den Eltern, bereits konkrete Abstiegserfahrungen erlebt. Rund 20 Prozent bewegen sich nach ihrer Einschätzung in etwa auf dem Einkommens- und Vermögensniveau der Eltern im gleichen Alter. Insgesamt werden die Chancen für einen sozialen Aufstieg für Angehörige der unteren Einkommensklassen eher pessimistisch beurteilt: Fast 38 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass Kinder aus der niedrigsten Einkommensgruppe auch in dieser Gruppe verbleiben werden.

Politische Implikationen
Die verzerrten Wahrnehmungen von Ungleichheit haben konkrete politische Implikationen. Die Tatsache, dass das Ausmaß von Ungleichheit tendenziell unterschätzt wird, mindert die Unterstützung für Umverteilungspolitik, wie z.B. Vermögens- oder Erbschaftssteuern, aber auch höhere Einkommenssteuern. Die pessimistische Einschätzung von Aufstiegschancen könnte Politikverdrossenheit und die Unterstützung für rechtspopulistische Parteien befördern. Die Forschenden machen in ihrem Policy Paper mehrere Vorschläge, wie die Politik auf ihre Befunde reagieren könnte. Sie regen insbesondere besser informierte öffentliche Debatten an, um das öffentliche Bewusstsein für das reale Ausmaß von Ungleichheit in verschiedenen Dimensionen zu schärfen. Die Menschen müssten in die Lage versetzt werden, abstrakte Vorstellungen von Ungleichheit besser auf ihre konkrete Lebenssituation zu beziehen. Dazu bedürfe es auch mehr öffentlicher Räume, in denen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in einen Austausch treten.

Paul Töbelmann

Von Paul Töbelmann - 02.06.2021