Einbahnstraße Evolution?

Einen Fall von „umgekehrter Evolution“ beschreiben Forschende der Universität Konstanz zusammen mit Kollegen aus den USA und Österreich bei Wasserflöhen der Art Daphnia galeata. Anhand ihrer Daten aus dem Bodensee konnten sie in diesem seltenen Beispiel aus einem natürlichen Ökosystem zeigen, dass Evolution bereits in Zeiträumen von wenigen Jahrzehnten entscheidend durch menschliches Handeln geprägt werden kann.

„Wir müssen uns der Tatsache bewusst werden, dass wir innerhalb unserer Lebenszeit so viel Einfluss auf die Umwelt haben, dass wir im negativen Sinne in der Lage sind, komplexe evolutionäre Veränderungen zu verursachen.“

Dr. Jana Isanta-Navarro

Evolutionsforschung beschäftigt sich in den meisten Fällen damit, wie sich eine Population von Organismen als Antwort auf Veränderungen ihrer Umweltbedingungen über Generationen hinweg anpasst. Am Ende dieses Prozesses stehen dann neue, vererbbare Merkmale. Deutlich seltener wird hingegen untersucht, was mit solchen neuentstandenen Merkmalen passiert, wenn die ursächliche Umweltveränderung, der sogenannte Selektionsdruck, wieder abnimmt oder wegfällt. Insbesondere mit Blick auf aktuelle Bemühungen, menschgemachte Einflüsse auf natürliche Lebensräume zu verringern und rückgängig zu machen, bedarf es jedoch intensiver Forschung zu Fragen wie der, ob evolutionäre Prozesse umkehrbar sind.

Genau dieser Frage sind nun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Limnologischen Instituts der Universität Konstanz zusammen mit internationalen Kollegen aus den USA und Österreich in ihrer aktuellen Studie in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ nachgegangen. Sie nutzten hierfür historische Aufzeichnungen zur Phosphatbelastung und zum Bestand von Cyanobakterien (umgangssprachlich und im weiteren Text als Blaualgen bezeichnet) im Bodensee, die sie mit Versuchen zur Blaualgenresistenz von Wasserflöhen der Art Daphnia galeata kombinierten. Die Wasserflöhe verloren innerhalb weniger Jahre ihre Resistenz gegen Blaualgen, die sie zuvor durch evolutionäre Anpassung erhalten hatten.

© Dominik Martin-Creuzburg

Geschlüpfter Wasserfloh der Art Daphnia galeata.

Eine kurze Geschichte des Bodensees
Der Bodensee ist ein großer Voralpensee an der Grenze zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Durch verschiedene Faktoren, wie zunehmende Besiedlung und Industrie um den See in Verbindung mit der unzureichenden Klärung von Abwässern, kam es in der Zeit von den 1950ern bis in die 1980er Jahre zu einer hohen Phosphatbelastung des Sees. Diese wurde von einer starken Zunahme der für viele Organismen giftigen Blaualgen im See begleitet. Erfolgreiche Umweltschutzmaßnahmen und technischer Fortschritt führten später, beginnend in den 1990er Jahren, zu einem deutlichen Rückgang der Phosphatbelastung und des Blaualgenbestands. Diese historische Entwicklung ist für den Bodensee im Detail dokumentiert und bildet den Schauplatz für die vorgestellte Studie zur „umgekehrten Evolution“ bei Wasserflöhen.

„Wir sind mit dem Bodensee in der großartigen Situation, dass wir einen weit zurückreichenden Datensatz über den See besitzen. Dank der durchgängigen Untersuchungen der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) wissen wir über Jahrzehnte hinweg, wie sich der Bodensee verändert hat. Ohne diese Langzeitdaten könnten wir unsere Ergebnisse nicht in einen sinnvollen Kontext setzen“, schildert Dr. Jana Isanta-Navarro, Erstautorin der Studie.

Die Besonderheiten des Wasserflohs
Wasserflöhe sind kleine Krebstiere und besitzen eine Eigenschaft, die sie für die Evolutionsforschung besonders interessant macht: Unter widrigen Umweltbedingungen, wie abnehmender Tageslänge und zunehmender Kälte im Winter, bilden sie sogenannte Dauereier, die von einer widerstandsfähigen Hülle umgeben sind. Sinken diese zu Boden und lagern sich im Sediment ab, können sie dort für lange Zeit unverändert überdauern. Ihre Überlebensfähigkeit büßen sie dabei nicht ein. Daher können die Wasserflöhe – nach einer Bergung der Dauereier aus dem Seeboden – selbst Jahrzehnte später noch zum Schlüpfen gebracht werden. Da sich Wasserflöhe außerdem unter guten Umweltbedingungen ungeschlechtlich fortpflanzen, können genetisch identische Nachkommen dieser wiedererweckten Exemplare vermehrt und im Labor studiert werden.

© Jana Isanta-Navarro

Einblick in eine gewaschene Sedimentprobe aus der die Dauereier isoliert werden. Der Kreis markiert eines dieser Dauereier.

Der in der aktuellen Studie untersuchte Wasserfloh Daphnia galeata ernährt sich von kleineren Organismen, wie Algen und Bakterien. „Diese filtert er aus einem selbsterzeugten Strudel ohne weitere Auswahl heraus“, verbildlicht Isanta-Navarro. „Das bedeutet, wenn viele Blaualgen im See sind, werden diese in hoher Zahl mitgegessen.“ Das Problem dabei: Blaualgen sind für Wasserflöhe als Nahrung ungeeignet und oft giftig.

Es ist jedoch aus einer Vorgängerstudie bekannt, dass die Wasserflohpopulation im Bodensee während des Anstiegs des Blaualgenbestands in den 1970er und 1980er Jahren eine zunehmende Resistenz gegen Blaualgen ausgebildet hat. Das spätere Schicksal dieser evolutionären Anpassung haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihren Experimenten genauer untersucht.

Genetische Zeitzeugen
Die Forschenden brachten zunächst die Wasserflöhe aus zwei unterschiedlichen Zeiträumen mithilfe von Wärme und Licht im Labor zum Schlüpfen: aus der Zeit mit hoher Blaualgendichte im Bodensee (1978-1985) und aus der Zeit, nachdem die Zahl an Blaualgen im See wieder abgenommen hatte (1999-2008). Die benötigten Dauereier stammten dabei aus Sedimentbohrungen, die 2017 im Bodensee durchgeführt wurden. Mit den Nachkommen der geschlüpften Wasserflöhe wurden dann Vergleichsexperimente zur Blaualgenresistenz zwischen den Epochen durchgeführt.

© Jana Isanta-Navarro und Markus Möst

Aufarbeitung der frisch gestochenen Sedimentkerne durch PD Dr. Dominik Martin-Creuzburg, Leiter der Arbeitsgruppe "Chemische Ökologie und Ökophysiologie" am Limnologischen Institut, und Dr. Jana Isanta-Navarro. Die Sedimentschichten einzelner Jahre sind anhand ihrer Farbe deutlich voneinander zu unterscheiden.

Hierfür kultivierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Nachkommen aus jedem Zeitraum unter zwei unterschiedlichen Umweltbedingungen. Ein Teil aus jeder Epoche lebte fortan in Seewasser mit bekömmlichen Grünalgen, der andere Teil in Seewasser mit wenig verträglichen Blaualgen. Anhand des Körperwachstums und des Fortpflanzungserfolgs der Wasserflöhe unter den zwei Umweltbedingungen wurde dann die Resistenz der Wasserflöhe gegenüber den Blaualgen ermittelt und zwischen den Nachkommen aus unterschiedlichen Zeitphasen verglichen.

Evolution als umkehrbarer Prozess
Dieser direkte Vergleich ergab, dass Wasserflöhe aus der Zeit des hohen Blaualgengehalts im See gut an diese unvorteilhafte Umweltbedingung angepasst waren. Sie hatten im Laufe der Evolution eine Resistenz gegenüber Blaualgen entwickelt, die ihren Vorfahren aus den 1960er Jahren noch fehlte. Die Resistenz fehlte jedoch auch ihren Nachfahren, die nach der Jahrtausendwende im See lebten, also nachdem sich der See von der Blaualgenbelastung erholt hatte.

Die Tatsache, dass sich das evolutionäre Merkmal der Blaualgenresistenz in der Wasserflohpopulation im Bodensee in einem Zeitraum von nur etwas über 20 Jahren zurückgebildet hatte, erlaubt laut den Autorinnen und Autoren der Studie nur einen Rückschluss:

„Ein zufälliges, sprich passives Verschwinden der resistenten Artgenossen schließen wir aus, da derartige Prozesse deutlich langsamer vonstattengehen. Stattdessen sehen wir hier klare Anzeichen einer Selektion zugunsten nichtresistenter Wasserflöhe, nachdem der ursprüngliche Selektionsdruck für die Entwicklung einer Resistenz mit dem Rückgang der Blaualgen wegfiel.“

Dr. Jana Isanta-Navarro

Eine mögliche Erklärung für diese „umgekehrte Evolution“ ist, dass die Blaualgenresistenz für die Wasserflöhe mit hohen energetischen Kosten verbunden war. Die Anpassung wäre dann nur zu den Zeiten einer hohen Blaualgendichte im See von Vorteil gewesen. Als die Blaualgenbelastung des Sees später zurückging, hätten die energetischen Nachteile der Resistenz überwogen und es wären plötzlich nichtresistente Artgenossen gewesen, die besser an die gegebenen Umweltbedingungen angepasst waren und deshalb von der evolutionären Selektion begünstigt wurden.

Der Mensch als Triebkraft der Evolution
Die Forschenden lieferten mit ihrer Studie nicht nur ein seltenes Beispiel für „umgekehrte Evolution“ an einer natürlichen Organismenpopulation. Sie zeigten außerdem, dass derartige Prozesse in vergleichsweise kurzen Zeiträumen von wenigen Jahrzehnten und in Antwort auf menschliche Eingriffe in die Natur erfolgen können – sei es in Form von Umweltverschmutzungen als auch den Maßnahmen, um diese rückgängig zu machen. „Das wirklich Besondere an unserer Studie ist, dass wir die vollständige Geschichte erzählen konnten, von der Entwicklung eines Merkmals bis zu seinem anschließenden Verlust. Allerdings war dies nur möglich, weil sich der Vorgang in einer ungewöhnlich kurzen Zeit – innerhalb von 50 Jahren – abgespielt hat“, resümiert Isanta-Navarro.

Veränderung des Posphorgehalts und der Blaualgendichte im Bodensee über die vergangenen Jahrzehnte. Die blaue Linie zeigt die Blaualgen.

Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, wie wichtig die Erforschung grundlegender evolutionärer Prozesse ist, um die Anpassungsfähigkeit von Arten an vom Menschen verursachte Umweltveränderungen einschätzen zu können.

Die Forschungsarbeit erhielt Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), den österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) sowie die US-amerikanische National Science Foundation (NSF). Zusätzliche Förderung für das Projekt wurde durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (ERDF) innerhalb des Rahmenprogramms „Interreg V“ der Europäischen Kommission zur Verfügung gestellt.

Dr. Daniel Schmidtke

Von Dr. Daniel Schmidtke - 29.03.2021

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