Genug Wasser für alle?

Ob eine Infrastruktur wie die Wasserversorgung nachhaltig ist und wie vielen Menschen sie zugutekommt, hängt nicht nur von ihren materiell-technischen Eigenschaften ab. Welch entscheidenden Einfluss kulturelle Dimensionen darauf haben, untersucht das aktuelle Schwerpunktthema zu Infrastrukturen am Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung (ZKF) der Universität Konstanz.

Manche Gegenden Europas setzen sich erst seit kurzem mit Dürre und prekärer Wasserversorgung auseinander. Anderswo wird schon sehr lange gegen den Wassermangel gekämpft, den die globale Klima-Erwärmung mittlerweile verschärft. In den Anden beispielsweise haben Strategien, die Menschen, Tiere und Felder auch in den langen Dürreperioden mit Wasser zu versorgen, eine Jahrtausende alte Tradition. Angesichts akuten Wassermangels greift man in Peru heute auch auf diese alten Techniken zurück: Präkolumbianische Bewässerungskanäle, amunas genannt, werden dort wieder instand gesetzt.

„Die Reaktivierung historischer Praktiken und Techniken kann die Betroffenen mit lebenswichtigen Ressourcen versorgen. Wenn wir aber nur die materielle Seite untersuchen, verstehen wir noch längst nicht, wie solche indigenen Infrastrukturen funktionierten. Für deren grundsätzliches Verständnis müssen wir uns ansehen, wie hier immaterielle und materielle Faktoren zusammenspielen. Wasser spielt in den prähispanischen Kulturen eine zentrale Rolle, die spirituelle Symbolik, kosmologische Vorstellungen und soziale Praktiken als verwobene Bedeutungsebenen hervorbringt und in Bewegung hält.“

Kirsten Mahlke, Professorin für Kulturtheorie und kulturwissenschaftliche Methoden

Wasser als Allgemeingut und -pflicht
Diesen indigenen Infrastrukturen spürt Mahlke in dem kolonialzeitlichen Text „Erste neue Chronik und gute Regierung“ von Guaman Poma de Ayala (Lima, 1615) nach. Darin beklagt der andine Gelehrte Poma, dass die traditionellen Wasser-Infrastrukturen durch die Kolonialisierung zerstört wurden, und ruft den spanischen König auf, die Kolonialregierung im Sinne der Daseinsfürsorge aller zu reformieren. Guaman Poma beschreibt in seiner Chronik nicht nur die Beschaffenheit der Bewässerungskanäle und Auffangbecken, sondern die kulturellen Dimensionen, in die sie eingebettet waren: wie Mythen, Riten und Gesetze. So richtete sich der Inka-Kalender nach den Zyklen der Wasserwirtschaft, welche durch die sich abwechselnden Regen- und Trockenzeiten geprägt wurden. Diese Zyklen spiegelten sich auch in den kosmologischen Vorstellungen der Menschen wieder, in denen die Milchstraße als „Fluss“ auftaucht, aus dem ein Lama trinkt.

Abbildung aus der Chronik von Guaman Poma de Ayala mit der Legende: „Junge Frau, die das Gemeinschaftsbeet bewässert, Brunnenwasser zum Gießen, November“.
Quelle: Abb. 1 Royal Danish Library, GKS 2232 kvart:  Guaman Poma, Nueva corónica y buen gobierno (c. 1615), S. 1162 [1172],  URL digital facsimile: https://poma.kb.dk/permalink/2006/poma/1172/en/text/?open=idm747, zuletzt geprüft am 17.08.2023
 

Nach andinem Gewohnheitsrecht, das noch vor die Zeit der Inka-Herrschaft zurückreicht, wurden Wasser- und Landnutzungsrechte nur im Zusammenhang vererbt. Das Wasser und die zugehörige Infrastruktur waren Allgemeingut, standen jedoch in der Verantwortung der Gemeinden. Säuberung, Pflege und Reparatur wurde in einer Art dezentralen Gemeinwohl-Ökonomie von Haushaltsgemeinschaften (ayllús) autonom geleistet. „Aufbau und Pflege der Wasser-Infrastrukturen stellt Guaman Poma gleichsam als ein prähistorisches Mega-Projekt der gesamten andinen Bevölkerung dar, das über administrative Verwaltung oder Privatbesitz hinausreicht“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin.

„Ob Inka-Herrscher oder der spanische König, laut Poma steht ihnen an erster Stelle die Rolle der Wächter über eine komplexe Infrastruktur zu, die unzählige Menschen vor langer Zeit erbaut und seither erhalten haben. Die strengen Gesetze andinen Wassermanagements sollten gewährleisten, dass alle, insbesondere die Ärmsten, ihre Felder und Tiere mit Wasser versorgen konnten.“

Kirsten Mahlke

Die spanische Eroberung des Inkareiches hatte auch für die Wasserversorgung desaströse Folgen. Für ihre riesigen Landgüter, encomiendas genannt, zweigten die Kolonialherren Wasser aus dem System ab, ohne kommunale Wasserrechte, die Pflichten zur Instandhaltung oder jahreszeitliche Rhythmen zu beachten. Laut Guaman Poma ließen die Spanier nur wenig Wasser übrig, sodass die Dorfbewohner gezwungen waren, ihre Dörfer zu verlassen.

Infrastrukturen ganzheitlich verstehen
Was kann die Untersuchung kultureller Dimensionen von Infrastruktur in dieser kolonialzeitlichen Problemlage leisten? Wie die Spanier die Wasser-Infrastruktur nutzten, erscheint in der Chronik beispielhaft für ein koloniales System der Ignoranz und extraktivistischer Praktiken. Infrastrukturen zu zerstören stellt sich hier als ein neuer Typ des Verbrechens dar, das vergangene Wissensbestände ebenso bedroht wie gegenwärtiges und zukünftiges Zusammenleben. Der andine Gegenentwurf zielt laut Mahlke darauf ab, dass die Infrastruktur dem Herrschaftsbereich einzelner entzogen wird, um der Gemeinschaft das gute Leben zu ermöglichen, unabhängig von der jeweiligen Verwaltung oder Regierungsform.

Unter der Inka-Herrschaft wurden Bewässerungskanäle angelegt. (Historische Stätte Tipón, Peru)
Foto: Aga Khan (IT), Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en, unverändert

Über 400 Jahre nach dem Verfassen der Chronik bestehen die beschriebenen Konflikte um die Wasserversorgung bis in die Gegenwart weiter, wenn auch mit anderen Akteuren. Heute protestiert beispielsweise die indigene Anden-Bevölkerung gegen internationale Konzerne, die in einer der trockensten Gegenden der Welt den äußerst wasserintensiven Abbau von Lithium betreiben, was wieder ihre Lebensgrundlage bedroht. „Die Kontinuitäten zwischen kolonialen und neokolonialen Wirtschaftsweisen werden durch die kulturwissenschaftliche Untersuchung von Infrastrukturen in langen Zeiträumen als kulturelle Muster erkennbar“, sagt Kulturwissenschaftlerin Mahlke.

„Das Aufeinandertreffen solch gegensätzlicher Modelle von Wasserversorgungssystemen wie dem andinen und dem kolonial-spanischen lässt sich ohne die Berücksichtigung von sozialen Werten und Hierarchien, spirituellen, symbolischen und rechtlichen Dimensionen nicht verstehen, in die sie eingebettet sind. Wenn es darum geht, Dürrezeiten zu überbrücken, ist heute solch verflochtenes Infrastruktur-Wissen nicht nur in Peru relevant.“

Kirsten Mahlke

Information zum Titelbild: Wasser war nicht nur überlebenswichtig, sondern hatte auch kultische Bedeutung (Historische Inka-Anlage Tipón, Peru). Foto: ESMERALDA118, Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en, beschnitten

 

Marion Voigtmann

Von Marion Voigtmann - 26.09.2023