„Kindeswohl sollte in unserer Gesellschaft Priorität haben“

Mit 62279 festgestellten Fällen von gefährdetem Kindeswohl erreichte Deutschland 2022 einen Höchststand. Ana Laura Edelhoff, akademische Mitarbeiterin im Fachbereich Philosophie der Universität Konstanz, schult angehende Lehrkräfte darin, Fälle von Kindeswohlgefährdung zu erkennen, und zeigt ihnen auf, wie sie eingreifen können.
© Ana Laura Edelhoff und Franziska Höllbacher

In Deutschland stirbt alle drei Tage ein Kind an den Folgen von Misshandlung. Als Ana Laura Edelhoff im Rahmen ihrer Habilitation über Kinderrechte und Kinderschutz auf dieses Ausmaß stößt, ist sie schockiert. „Der Rechtsmediziner Michael Tsokos geht davon aus, dass zusätzlich noch einmal so viele Tötungsdelikte im Dunkeln bleiben“, sagt die Wissenschaftlerin. Diese Delikte kämen in allen gesellschaftlichen Schichten vor. Und häufig seien Kinder dem hilflos ausgeliefert.
Kindeswohlgefährdung umfasst körperlichen – auch sexuellen – und psychischen Missbrauch sowie Vernachlässigung.

„Die tragische Wahrheit ist, dass es sich selten um eine einzelne todbringende Gewalttat handelt, sondern solche Kinder ihr Leben lang schon Gewalt erfahren haben. Nicht selten werden bei Obduktionen Knochenbrüche festgestellt, die zu unterschiedlichen Zeiten erlitten wurden. Solche Gewalt findet im familiären Bereich statt, Tötungsdelikte gehen in den meisten Fällen von den Eltern aus.“

Ana Laura Edelhoff, akademische Mitarbeiterin am Fachbereich Philosophie der Universität Konstanz, habilitiert zum Thema „Kinderrechte und Kinderschutz“. Foto: © Ulrike Sommer

Fälle von Kindeswohlgefährdung auf Höchststand
2022 wurden in Deutschland 62279 Fälle von Kindeswohlgefährdung festgestellt, ein Höchststand, etwa 4% über dem Vorjahr. „Konkret heißt das, dass diese Kinder laut Überprüfung der Jugendämter so gefährdet sind, dass sie nicht bei ihren Eltern bleiben können“, erläutert Edelhoff. Hauptursache von Kindeswohlgefährdungen generell sieht sie in der Überforderung von Eltern. Die Steigerung im vergangenen Jahr führt sie auf die Corona-Pandemie zurück, als Familien überaus gefordert und zudem isoliert gewesen und gleichzeitig wegen geschlossener Schulen und Kitas weniger Fälle entdeckt worden seien.

ExpertInnen gehen davon aus, dass in jeder deutschen Schulklasse zwei betroffene Kinder sitzen. Deshalb begann Edelhoff, an der Universität Konstanz Seminare über Kindeswohlgefährdung anzubieten, die sich an Lehramtsstudierende richten. Bislang wurden diese während des Studiums nicht an das Thema herangeführt – ein deutschlandweites Manko – mit der Folge: Wenn sie während eines ihrer Unterrichtspraktika oder im späteren Berufsleben mit Fällen von Kindeswohlgefährdung konfrontiert wurden, fehlten ihnen wichtige Informationen und das Handwerkszeug, damit umzugehen. Tatsächlich berichteten sämtliche SeminarteilnehmerInnen von Verdachtsfällen während Unterrichtspraktika, von Fällen, bei denen sie oftmals nicht wussten, wie sie sich zu verhalten haben.

Anzeichen von Kindeswohlgefährdung
Woran kann man Kindeswohlgefährdung erkennen? „Auf körperliche Misshandlungen können Wunden an Körperteilen hinweisen, die ein Kind sich normalerweise nicht durch Stürze zuzieht, etwa blaue Flecken an der Innenseite der Oberschenkel, an Bauch und Rücken, an den Augen“, erläutert die Wissenschaftlerin. „Es gibt eine sehr gut aufbereitete Abbildung des Deutschen Kinderverein zum Thema, die in jedem Lehrerzimmer hängen sollte.“ Auf psychische Misshandlung kann hinweisen, wenn ein Kind plötzlich sein Verhalten ändert: wenn beispielsweise ein offenes Kind plötzlich sehr eingeschüchtert wirkt, oder ein ruhiges Kind auf einmal sehr aggressiv auftritt und andere grundlos schlägt.

In Artikel 19 der UN-Kinderrechtskonvention, welche die BRD 1989 unterzeichnet hat, ist der Schutz von Kindern vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung festgeschrieben. Die UN-Kinderrechtskonvention gilt seit 2010 verbindlich und als Bundesgesetz. © Ana Laura Edelhoff und Franziska Höllbacher

Alle im Schulwesen Tätigen haben, so Edelhoff, rechtlichen Anspruch darauf, sich von einer sogenannten „insoweit erfahrenen Fachkraft“ (IeF) vertraulich beraten zu lassen, die ausgebildet ist, Kindeswohlgefährdung zu erkennen und einzuschätzen. Bei einem Verdachtsfall rät Edelhoff ihren Studierenden, sich zunächst mit anderen Lehrkräften auszutauschen, ob sie Ähnliches festgestellt hätten. Einer Lehramtsstudentin fiel beispielsweise auf, dass ein Kind nie Essen dabeihatte und ständig zu hungern schien. Andere Lehrkräfte wussten, dass das Kind auch vom Mittagstisch abgemeldet worden war, weil die Eltern sagten, sie hätten kein Geld mehr dafür.

„Wenn sich ein Verdacht erhärtet, müssen Lehrkräfte sich bei akuter Gefahr an das Jugendamt wenden. Beispielsweise, wenn ein Kind mit blauem Auge in die Schule kommt und von seiner Angst spricht, nach dem Unterricht nach Hause zu gehen“, sagt die Wissenschaftlerin. „Wenn keine unmittelbare Gefahr für das Kind besteht, suchen sie zunächst das Elterngespräch. Solche Elterngespräche sind äußerst brisant. Lehrkräfte wie Lehramtsstudierende sollten daher besonders geschult sein, damit eine Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus auch danach gewährleistet ist.“

Das Recht auf gewaltfreie Erziehung
Erst seit Anfang 2001 ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch festgeschrieben. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind laut Gesetz unzulässig. Jedoch hält Edelhoff weitere Gesetze für nötig: zum Beispiel eine gesetzlich vorgeschriebene Obduktionspflicht bei Todesfällen von Kindern und Jugendlichen, damit mehr Delikte entdeckt werden; und eine Weiterbildungspflicht zum Thema „Kindeswohlgefährdung“ für alle Personen und Berufsgruppen, die mit Kindern zu tun haben. KinderärztInnen seien erst seit einem Jahr zu einer solchen Weiterbildung verpflichtet, während sie für RichterInnen am Familiengericht noch nicht bestehe.

„Ein Gesetz wie das bestehende Recht von Kindern, in den sie betreffenden Gerichtsverhandlungen und Verwaltungsprozessen gehört zu werden, bringt allerdings nur etwas, wenn es auch umgesetzt wird“, darauf weist die Wissenschaftlerin hin. „So eine kindliche Befragung ist sehr kostspielig, wenn sie von professionellen Kräften durchgeführt wird, und unterbleibt daher häufig. Hier müsste viel mehr Geld in eine kindgerechte Justiz investiert werden.“

Laut Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen es berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter gehört zu werden. © Ana Laura Edelhoff und Franziska Höllbacher

Edelhoff wünscht sich, eine Kinderschutzausbildung für alle Lehramtsstudierenden verpflichtend zu machen – idealerweise in ganz Deutschland. Und, an die Gesamtgesellschaft gewandt, dass alle besser hinsehen. „Das Kindeswohl sollte in unserer Gesellschaft unbedingt eine Priorität haben. Jeder Einzelne muss genauer hinsehen und Verantwortung übernehmen. Wer denkt, Erziehung sei Privatsache, muss wissen: Dies hört dort auf, wo das Kindeswohl gefährdet ist. Eine einzelne Handlung kann das ganze Leben eines Kindes zerstören“, sagt Edelhoff. „Auch hier rate ich bei Verdachtsfällen, sich mit anderen im Umfeld auszutauschen, ob sie Ähnliches beobachtet haben, und sich gegebenenfalls durch das Jugendamt beraten zu lassen. Und offensichtlich überforderten Eltern auch Hilfe anzubieten.“

Marion Voigtmann

Von Marion Voigtmann - 14.09.2023