Mediterrane Netzwerke, korsische Clans und Marseille als Ort des Transits

KI-gesteuerte Transportrouten, angepasste Stromversorgung per Mausklick, automatische U-Bahnlinien – Fortschritt in Technologie und Infrastruktur gilt Teilen der Gesellschaft als unerlässlich für die Zukunft, andere beunruhigt oder ängstigt dies. Manuel Borutta, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, forscht an der Universität Konstanz über Infrastrukturen im modernen Mittelmeerraum. Neue Infrastrukturen hatten in der Vergangenheit oft nicht absehbare Folgen politischer und wirtschaftlicher, aber auch kultureller Art. Wie wirkt sich dies bis heute aus?
© Wikimedia Commons, Public domain

Der 1869 eröffnete Suezkanal war eines der größten Infrastruktur-Projekte des 19. Jahrhunderts. Er machte das Mittelmeer zu einer zentralen Passage zwischen Europa, Afrika und Asien. Wie wirkt sich dies auf eine Mittelmeer-Insel wie Korsika aus?

Manuel Borutta: Der Suezkanal globalisierte das Mittelmeer, indem er es mit dem Roten Meer und dem Indischen Ozean verband. In der Folge wurde es zu einem „Highway des British Empire“, zu einer West-Ost-Achse britischer Handelsschiffe auf dem Seeweg von und nach Indien. Viele Häfen der Region wurden ebenfalls mit Asien und Ostafrika vernetzt. Das Habsburgerreich etwa wandelte sich via Triest zu einem maritimen Imperium. Allgemein regte das Suezkanalbauprojekt europäische Phantasien zur Eroberung neuer Märkte und Territorien in Afrika und Asien an.

© https://www.davidrumsey.com/luna/servlet/detail/RUMSEY~8~1~333114~90101275

Karte des Mittelmeerraums von 1875. Autor: Adolf Stieler (1775 - 1836)

Für Korsika hatte das Ereignis geringere Folgen, weil die Insel nicht in die Netze des globalen Verkehrs und Handels eingebunden war. Dramatische Auswirkungen hatte hingegen die Anbindung Korsikas an das französische Netz der mediterranen Dampfschifffahrt, die dazu führte, dass die Insel mit industriell gefertigten Lebensmitteln vom Festland, vor allem aus Marseille, regelrecht überschwemmt wurde. Dies ruinierte die insulare Landwirtschaft und führte zu einem Exodus junger Korsen. Infrastrukturelle Vernetzung kann also für eine Gesellschaft auch negative Folgen haben.

Mangels Perspektiven auf der Insel emigrierten viele junge Korsen nach Marseille, Algerien oder in die französischen Überseekolonien. Überall dort bildeten sich korsische Netzwerke, die Sie in Ihrem Artikel „Canals & Clans: Mediterranean Infrastructures“ als „kulturelle Infrastrukturen“ bezeichnen. Was verstehen Sie unter einer kulturellen Infrastruktur?

"Korsen bildeten eine kulturelle Infrastruktur des französischen Überseereiches: Sie waren in Militär, Verwaltung und Polizei stark überrepräsentiert. Zugleich blieb die koloniale Diaspora der Insel eng verbunden, vermischte sich kaum mit anderen Franzosen, sondern organisierte sich selbst, indem sie zum Beispiel landsmannschaftliche Vereine gründete, die korsische Interessen in Metropole und Kolonie vertraten, korsische Traditionen wie beispielsweise Sprache und Ernährung pflegte und die Verbindung zur Insel aufrechterhielt."

Manuel Borutta

In Algerien lebten in den 1950er-Jahren rund 100.000 Korsinnen und Korsen. Ein wichtiges Anliegen der Assoziation der „Korsen von Algier“ war der Ausbau der Verbindungen der Insel mit dem Festland und den Kolonien. Zugleich übertrugen Korsinnen und Korsen kulturelle Praktiken von der Insel in die Kolonie.

Wie geschah dies konkret?

Die griechischstämmigen unierten katholischen Korsen aus Cargèse beispielsweise siedelten 1878 mit ganzen Familien ins algerische Sidi Mérouane über und reproduzierten dort ihr Dorf: ihre Sprache, Symbole und Rituale. Sie vermischten sich kaum mit anderen Franzosen, nutzten aber die materiellen Ressourcen des kolonialen Staates, in diesem Fall das von Muslimen enteignete Land, um dieses an Mitglieder ihrer Familien oder Clans zu verteilen. Siedlungskolonisation im Sinne der französischen Verwaltung Algeriens betrieben sie hingegen kaum, sondern verpachteten oder verkauften ihr Land bald wieder an die Einheimischen.

Sie nutzten die Ressourcen und Kanäle des Imperiums also für eigene Zwecke. Auch beim Sturz der Vierten französischen Republik 1958 spielten korsische Netzwerke auf dem Festland, auf der Insel und in Algerien eine zentrale Rolle. Solche Umnutzungen nationaler und imperialer Infrastrukturen will ich im Rahmen eines Forschungsschwerpunkts zu kulturellen Dimensionen von Infrastrukturen näher erforschen.

Wie kamen diese korsischen Netzwerke in der Stadt Marseille zum Tragen?

Marseille war seit der Frühen Neuzeit eine Anlaufstelle emigrierender Korsen. Nach 1900 verwandelten sie das Panier-Viertel am Alten Hafen in ein korsisches Dorf. In den 1930er Jahren schwang sich der aus Korsika stammende rechtspopulistische Politiker Simon Sabiani als Vizebürgermeister zu einer zentralen Figur der Lokalpolitik auf. Machtbasis dieses „Mussolini von Marseille“ waren nicht nur die Korsen in der Stadt, denen er Arbeit und Wohnraum verschaffte, sondern auch Schlägertrupps und Gangster wie der ebenfalls aus Korsika eingewanderte Paul Carbone und der italienischstämmige François Spirito, die gewaltsam politische Gegner Sabianis einschüchterten.

© Édouard Baldus, CC0, via Wikimedia Commons

Der Hafen von Marseille, um 1860.

Im Gegenzug erhielten sie Zugriff auf die Präfektur, wo sie ihre Gefolgsleute platzierten, um sich vor polizeilicher Verfolgung zu schützen, den neuen Hafen von Marseille zu kontrollieren und von hier aus Prostituierte nach Lateinamerika zu exportieren und Opium aus Asien und dem östlichen Mittelmeerraum zu importieren, das in Marseille zu Heroin verarbeitet wurde. Es war der Vorläufer der French Connection, die nach dem Zweiten Weltkrieg über einen anderen Clan von Marseiller Korsen, die Guérini-Brüder, die mit den nun regierenden Sozialisten kooperierten, den nordamerikanischen Heroinmarkt erobern sollte. Als Carbone angeklagt wurde, erklärte ihn Sabiani öffentlich zu seinem „Freund“.

Das klingt nach einem Freundschaftsdienst – oder gar „Vetternwirtschaft“!?

Hier kam ein mediterranes Konzept von Freundschaft zum Einsatz, um den Gangster Carbone zu einem „Ehrenmann“ zu erklären und seine Unschuld zu behaupten. Carbone und Spirito kooperierten mit Faschisten und Franquisten in Italien und Spanien und mit den deutschen Besatzern. Kulturelle Netzwerke und Konzepte wurden also genutzt, um politische Macht zu gewinnen und Verbrechen in globalem Maßstab zu organisieren. Die Kontrolle materieller Infrastrukturen (der neue Marseiller Hafen) und Carbones freundschaftliche Verbindungen zu korsischen Matrosen von Ozeanlinern, die als Schmuggler arbeiteten, spielten dabei eine wichtige Rolle. Immaterielle und materielle Infrastrukturen ergänzten sich wechselseitig.

Welchen Einfluss hatte diese kulturelle Infrastruktur auf die Entwicklung der Stadt Marseille, und was waren die historischen Folgen?

In der Zwischenkriegszeit veränderte sich das Image Marseilles. Aufgrund der globalen Verbindungen des neuen Hafens und der durch diesen Transit-Ort zirkulierenden Ströme von Waren, Menschen und Ideen wurde die provenzalische Hafenstadt nicht nur als eine mediterrane Metropole und als das faktische Zentrum des französischen Kolonialreiches dargestellt, sondern auch als ein Moloch der Globalisierung, der durch ungezügelte Einwanderung und Gewalt, Drogenkonsum und Prostitution, politische Korruption und organisiertes Verbrechen gekennzeichnet war, als ein „französisches Chicago“.

Welche Vorteile sehen Sie als Historiker darin, nicht nur materielle Infrastrukturen wie Kanäle, Transportrouten und Handelsgesellschaften, sondern auch immaterielle Infrastrukturen wie beispielsweise soziale Praktiken zu erforschen?

"Interessant sind die Wechselwirkungen beider Formen von Infrastruktur. Materielle Infrastrukturen, in diesem Falle Kanäle, Dampfschiffe und Häfen, können kulturelle Transformationen auslösen: Prozesse der Einwanderung, der Segregation und der Vermischung, des Missbrauchs politischer Macht und eines Wandels der Repräsentation. Zugleich können kulturelle Praktiken und Netzwerke diese materiellen Infrastrukturen für eigene Zwecke nutzen und sie gemessen an den Absichten der Architekten dieser Infrastrukturen zweckentfremden."

Manuel Borutta

Korsika ist dafür nur eines von vielen möglichen Beispielen aus der Geschichte des modernen Mittelmeerraumes. Auch die muslimischen Pilger, die mit den Dampfschiffen und Eisenbahnen europäischer Gesellschaften nach Mekka pilgerten und dabei zu islamischen Fundamentalisten oder zu arabischen Nationalisten wurden, wären ein interessanter Untersuchungsgegenstand.

Marseille gilt bis heute als eine der Problemstädte Frankreichs mit extremer Drogenkriminalität, welche die Politik scheinbar nicht unter Kontrolle zu bringen vermag. Inwiefern könnte ein besseres Verständnis kultureller Infrastrukturen zu positiven Veränderungen führen?

Es kommt darauf an, den Begriff nicht normativ aufzuladen, sondern neutral zu halten, um ihn analytisch fruchtbar zu machen. Wie angedeutet, mangelt es beispielsweise dem organisierten Verbrechen keineswegs an kulturellen Infrastrukturen. Dem französischen Staat ist es bisher nicht gelungen, die abgehängten Quartiers Nord mit seinen kulturellen Infrastrukturen zu durchdringen. Vielmehr hat er sich aus diesen Zonen zurückgezogen und die dort lebenden Menschen sich selbst und den Drogenbossen überlassen, die dann zum Beispiel den Kindern der Familien, die sich einen Urlaub nicht leisten können, im Sommer aufblasbare Schwimmbäder bereitstellen, weil es hier keine öffentlichen Schwimmbäder gibt. Das organisierte Verbrechen übernimmt hier also Aufgaben des Staates, sorgt für Ordnung im Viertel und verteilt Ressourcen. Diese Gebiete zurückzugewinnen, wird für den Staat nicht leicht, weil er kein Vertrauen genießt und weil es an Vermittlung und Dialog fehlt. Die Polizei sucht einige Teile der Quartiers Nord wie z. B. die Hochhaussiedlung Cité de la Castellane, in der Zinédine Zidane geboren wurde, nur noch schwer bewaffnet und in Mannschaftsstärke auf, weil die Gangs ihrerseits schwer bewaffnet und die Bewohner ihrem Diktat ausgeliefert sind. Die Kontaktbereichsbeamten wurden ab 2003 abgeschafft, als Nicolas Sarkozy Innenminister war.

Frankreichs aktueller Präsident Macron hat einen milliardenschweren Plan für Marseille, aufgelegt: „Marseille en grand“. Die Bedingung für diese massive staatliche Unterstützung war, dass die abgehängten quartiers, vor allem im Norden der Stadt besser an das teilweise bereits gentrifizierte Stadtzentrum angebunden werden. Ein Schritt, den die Lokalpolitik über Jahrzehnte vermieden hat. Mittlerweile wurden die ersten Straßenbahntrassen verlegt. Es wird sehr interessant zu beobachten sein, wie sich diese urbanistische Intervention auf die Stadt auswirkt und wer in diesem Kampf um Marseille letztlich die Oberhand behalten wird. Kulturwissenschaften können diese komplexen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Probleme nicht lösen. Anthropologische, soziologische, geschichts- und literaturwissenschaftliche Infrastrukturforschung kann aber zu einem besseren Verständnis dieser Konflikte und Dynamiken beitragen. Hierzu bedarf es auch einer theoretischen Fundierung des Konzepts kultureller Infrastrukturen, die im Rahmen des Forschungsschwerpunkts erfolgen soll.

Manuel Borutta ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz, mit Schwerpunkt 19. und 20. Jahrhundert. Seit 2018 leitet er das Netzwerk „Modernes Mittelmeer: Dynamiken einer Weltregion 1800-2000“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Derzeit schließt er ein Buch über mediterrane Verflechtungen Algeriens und Frankreichs in kolonialer und postkolonialer Zeit ab und arbeitet an der Vorbereitung eines „Oxford Handbook of the Modern Mediterranean“.

Sein Beitrag „Canals & Clans: Mediterranean Infrastructures“ erschien in dem Buch „Rethinking Infrastructure Across the Humanities” (herausgegeben von Nora Binder, Fernando Esposito, Aaron Pinnix und Axel Volmar) Ende Oktober 2023 im Transkript Verlag. Das Buch ist online kostenlos zugänglich (open access).

Headerbild: Ikonisch für Marseilles moderne Infrastrukturen waren der neue Hafen La Joliette und der Pont Transbordeur über dem Alten Hafen. Copyright: Wikimedia Commons, Public domain
 

Marion Voigtmann

Von Marion Voigtmann - 15.01.2024