Wie nachteilig sich koloniale Infrastrukturen bis heute auswirken

Die Gesellschaft für Anglophone Postkoloniale Studien (GAPS) wählte jüngst Timo Müller, Professor für Amerikanistik an der Universität Konstanz, zu ihrem Präsidenten. Die GAPS setzt sich kritisch mit dem europäischen Kolonialismus und seinen Nachwirkungen auseinander. Ein Kurzinterview mit Timo Müller über postkoloniale Infrastruktur
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Auf der diesjährigen Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Anglophone Postkoloniale Studien (GAPS) e.V. wurde Timo Müller, Professor für Amerikanistik an der Universität Konstanz, zum Präsidenten der GAPS gewählt. Die Wahl fand im Vorfeld der Jahrestagung der Gesellschaft in Konstanz statt, die Müller mitorganisierte. Unter dem Titel „Postcolonial Infrastructure“ eröffneten 150 TeilnehmerInnen aus der ganzen Welt vielfältige Perspektiven auf die kulturelle Transformation von Infrastruktur, einen neuen Forschungsschwerpunkt der Konstanzer Geisteswissenschaften.
 

Timo Müller über postkoloniale Infrastruktur

Bei den Stichwörtern Infrastruktur und Kolonialismus denkt man zunächst an große Infrastrukturprojekte wie den Suezkanal oder den Bau von Eisenbahnlinien. Welche soziopolitischen Infrastrukturen festigten koloniale Herrschaft?

Timo Müller: Solche Großprojekte spielten in der Tat eine entscheidende Rolle im Kolonialismus. Überhaupt war der Kolonialismus ein gigantisches Projekt des Infrastruktur-Transfers. Wichtig waren aber auch die kleinen, oft übersehenen Infrastrukturen, zum Beispiel die Zerstörung gewachsener Strukturen der Krankenpflege oder der Wasserversorgung zugunsten neuer Systeme, die die Einheimischen von den Besatzern abhängig machten.

Für uns als Kulturwissenschaftler ist vor allem interessant, wie diese Infrastrukturen gerechtfertigt wurden, nämlich durch die Verbreitung von Ideen und Erzählungen über die kolonisierten Völker und die angeblich zivilisierende Wirkung der neuen Infrastrukturen.

„Erst heute erkennen wir im Westen langsam, dass es die kolonialen Infrastrukturen selbst sind, die Umweltzerstörung und soziale Schäden verursachen. Daher ist es wichtig, indigene Infrastrukturen soweit möglich wiederzubeleben und von ihnen zu lernen.“

Timo Müller

Inwiefern sind Infrastrukturen noch immer Schlüssel zum Verständnis postkolonialer Verhältnisse bzw. Ungleichheiten?

Timo Müller: Gerade weil solche Ungleichheiten mittlerweile als politisch nicht mehr akzeptabel gelten, haben die Profiteure – zum Beispiel die reichen Nationen Europas und Nordamerikas – sie auf die infrastrukturelle Ebene verlagert, wo sie nicht unmittelbar sichtbar sind. Die sogenannte Entwicklungshilfe ist zum Beispiel weiterhin so angelegt, dass die Empfänger einen Gutteil der Mittel wieder in die Wirtschaft der Geberländer einspeisen müssen, um etwa Ersatzteile für neue Anlagen zu beschaffen.

„Die sogenannten Problemviertel in europäischen Städten dienen oft dazu, postkoloniale Migranten abzusondern und als problematisch darzustellen.“

Timo Müller

Die brennenden Vorstädte, die wir gerade in Frankreich sehen, sind zunehmend von den Innenstädten abgekoppelt worden, indem infrastrukturelle Verbindungen gekappt wurden und schon die Postleitzahl auf dem Bewerbungsschreiben zur Ablehnung geführt hat. Hier verstärken sich materielle Infrastrukturen und ihre kulturelle Wahrnehmung gegenseitig – und das ist, wie unsere Forschungen zeigen, sehr häufig der Fall.


Welche Aspekte postkolonialer Infrastrukturen beleuchtet Ihre aktuelle Forschung?

Timo Müller: Ich arbeite aktuell zur kulturellen Wahrnehmung von Straßen und Automobilität, unter anderem in meinem ERC-Projekt „Off the Road: The Environmental Aesthetics of Early Automobility“. Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass sich die ersten Autofahrer, die den amerikanischen Kontinent durchquerten, als Pioniere in der Tradition der europäischen Kolonisation sahen. Sie glaubten, dass sie mit dem Auto zur Zivilisation der indigenen Bevölkerung beitragen könnten, und nutzen die neue Technologie gleichzeitig dazu, diese Bevölkerung als rückständig hinzustellen. Solche Ideen wirken bis heute nach und führen zum Beispiel dazu, dass Straßen oft ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Anwohner gebaut werden. Das passiert besonders häufig, wenn diese Anwohner als ethnische Randgruppen wahrgenommen werden.

Ghana, 1910s

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Die Nachwirkungen des Kolonialismus kritisch betrachten

Seit 2011 selbst Mitglied der GAPS, hatte Müller bereits verschiedene Vorstandsämter inne, bevor er zu ihrem Präsidenten gewählt wurde. Er knüpft damit an seine eigene Forschung im Bereich der postkolonialen Literaturen an, insbesondere zur Karibik und zu den schwarzen Kulturen im atlantischen Raum. „Ich freue mich sehr über das Vertrauen, das die Mitglieder der GAPS in mich setzen“, erklärt der Literaturwissenschaftler.

„Als Präsident der GAPS möchte ich insbesondere unsere jüngeren Mitglieder fördern und den Austausch zwischen Forschenden aus verschiedenen Ländern und auf verschiedenen Karrierestufen stärken.“

Timo Müller

Mit ihren etwa 300 (inter-)nationalen Mitgliedern widmet sich die GAPS den anglophonen Literaturen der Welt, den Varietäten der englischen Sprache sowie den postkolonialen Gesellschaften Europas und der Welt. Sie setzt sich kritisch mit der Geschichte des europäischen Kolonialismus und dessen gesellschaftlichen, kulturellen, literarischen und sprachlichen Nachwirkungen auseinander und beschäftigt sich mit den Theorien und Methoden der Postkolonialen Studien. Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf diesen Gebieten ist ein Alleinstellungsmerkmal der Gesellschaft im deutschsprachigen Raum.

Weitere Informationen zur GAPS sind auf der Homepage der Gesellschaft zu finden.

 

Claudia Marion Voigtmann

Von Claudia Marion Voigtmann - 18.07.2023