Gemeinsam essen

Was Mensch und Bonobo beim kollektiven Essen verbindet. Ein Gespräch über Rituale, Regeln und Festessen mit Ökologin Barbara Fruth und Gesundheitspsychologin Britta Renner

Ökologin Barbara Fruth und Gesundheitspsychologin Britta Renner, Projektleiterinnen am Exzellenzcluster Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour (CASCB) der Universität Konstanz, forschen über gemeinsames Essen. Ein Gespräch zu Essenssituationen und Ritualen bei Menschen und Bonobos – nicht nur, aber auch bei besonderen Anlässen.

Eigentlich, so könnte man meinen, ist Nahrungsaufnahme etwas Individuelles. Jeder könnte doch für sich Sorge tragen. Dennoch, Essen ist etwas höchst Soziales. Was sind die Gründe?

Britta Renner: Bei Befragungen denken die meisten: Über Essen möchte ich selber entscheiden. Aber wenn man über Länder und Kulturen hinweg schaut, dann sieht man den kollektiven Appetit. Ganz einfaches Beispiel sind die Tageszeiten, zu denen wir essen. Da zeigt sich eine ausgeprägte Synchronisierung in verschiedenen Gesellschaften. In Frankreich essen um 13 Uhr über 50 bis 60 Prozent der Menschen. Diese Mahlzeiten-Picks finden wir in vielen Gesellschaften.

Barbara Fruth: Tageszeiten sind bei Affen auch etwas Vorhersehbares. Wenn Bonobos aufstehen, wird erst einmal der nächst gelegene Futterbaum aufgesucht. Es gibt eine tageszeitliche Verteilung, am Morgen gibt es in der Regel Früchte von Bäumen, am Nachmittag laufen Bonobos am Boden und vertilgen krautähnliche Pflanzen. Irgendwann am Abend bauen sie dann ihre Schlafnester, um die Nacht in Bäumen zu verbringen. Bei einem Zwölfstundentag wird um die acht Stunden gegessen. Besonders intensiv wird gegessen, wenn monopolisierbare Nahrung geteilt wird.

Wie wird gemeinsames Essen bei Menschen und Bonobos erforscht?

Barbara Fruth: Wir machen sogenannte Fokustierbeobachtungen. Dafür nehmen wir uns pro Stunde ein Individuum vor, welches wir in dieser Zeit genau beobachten. Dabei ist die Nahrungsaufnahme ein fester Bestandteil. Alle fünf Minuten schauen wir, was all die anderen Individuen in der Gruppe machen, um das Verhalten des Fokustiers in Bezug setzen zu können. Wenn Nahrung geteilt wird, dann betrachten wir die Gruppe. Wir wollen wissen: Wer besitzt die Nahrung? Wer möchte daran teilhaben? Wir schauen, wie lange Individuum A die Beute oder die Frucht hat, wer sich um sie oder ihn schart, wer bettelt, wer etwas abbekommt und wer nicht.

Britta Renner: Da seid ihr um einiges weiter, als das, was wir bei den Menschen machen. In der Soziologie und Anthropologie wurde gemeinsames Essen oder Kommensalität bereits aufgegriffen, aber mehr unter der Perspektive, wie soziale Praktiken funktionieren, zum Beispiel wie Tischordnungen sozialen Status definieren. In der Ernährungswissenschaft wird in erster Linie erforscht, was nach dem Mund passiert: Wie viel Energie oder welche Nährstoffe aufgenommen werden und wie dies mit Krankheiten zusammenhängt. Was vor dem Mund passiert und wie es in den Mund reinkommt, hat man lange Zeit nicht erfasst.

© CASCB, Gestaltung Abschnitt eins

Versuchsaufbau der Studie "Collective Appetite"


Deswegen finde ich es sehr spannend, was wir hier am Exzellenzcluster Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour machen. Wir arbeiten unter anderem mit der Trackingmethode. Wir laden Personen in unser Behavioral-Trackinglabor ein, die sich zuvor nicht kannten, setzen sie gemeinsam an einen Tisch und sie dürfen gemeinsam essen.

Was wird aufgetischt, wenn gemeinsam gegessen wird?

Britta Renner: Es kommt auf den Anlass an. Wenn ich dich zu mir nach Hause einlade und eine Dose Ravioli aufmachen würde, würde dies wahrscheinlich nicht positiv wahrgenommen. Es gibt Skripte und Erwartungen für angemessenes Essen und dessen Abläufe. So sollen sich die Gäste wohlfühlen, und wir servieren Gerichte, die Wertschätzung ausdrücken. Dazu verwenden wir Zutaten und Zubereitungen, die mit einem höheren sozialen Status assoziiert sind. Typischerweise war dies lange Zeit Fleisch, was uns jetzt auf die Füße fällt.

Bonobos haben nicht die Wahl, in den Supermarkt zu gehen und zu überlegen, was sie ihren Gästen anbieten. Es überwiegen ganz klar Früchte und andere pflanzliche Nahrung. Im Mittel ist es zirka einmal pro Woche, dass ein Individuum eine Frucht oder eine tierische Beute monopolisiert und es zur Nahrungsteilung kommt. Man kann an der Aufgeregtheit der Bonobos ablesen, wie der Beliebtheitsgrad einer Nahrungsquelle eingestuft wird. Fleisch oder große, reife Früchte gewinnen.

Barbara Fruth

Wer hat beim Auftischen das Sagen?

Barbara Fruth: Bei den Bonobos sind es ranghöhere Individuen, die Nahrung monopolisieren können. Sie sind es auch, die bestimmen, welche anderen Individuen Zugriff erhalten. Hier kommt auch der sogenannte tolerierte Diebstahl ins Spiel. Wenn du eine riesige Frucht hast und um dich herum zehn Individuen sind, die alle etwas haben wollen, dann kommst du, wenn du alle abwehren willst, selbst nicht zum Essen. Du gewährst also Teilhabenden den Zugriff, um in Ruhe essen zu können.

Britta Renner: Bei Menschen gibt es Beobachtungsstudien mit Säuglingen, die zeigen, dass diese sich soziale Zugehörigkeit anhand dessen erschließen, wer mit wem Essen teilt. Wenn Säuglinge beobachten, dass z. B. eine Person einer anderen Essen gibt und diese positiv reagiert, dann wird das Essen positiver bewertet, aber auch soziale Zugehörigkeit zwischen den Personen angenommen. Wenn eine Person hingegen mit Ekel auf das Essen reagiert, dann führt das zu einer generellen Ablehnung des Essens. Das ist wie eine soziale Sprache.

Gibt es diese soziale Sprache bei den Bonobos auch?

Barbara Fruth: Bonobos geben anderen Individuen normalerweise kein Essen. Nach Einhaltung bestimmter Regeln wie z. B. der Bettelgeste dürfen Erwachsene sich etwas nehmen. Kinder dürfen der Mutter oder anderen NahrungsbesitzerInnen immer Essen aus dem Mund nehmen und lernen damit, was gut ist. Einmal hat ein Männchen, das eine Honigwabe hatte, aber weiterwollte, einem juvenilen Weibchen den gesamten Rest in die Hand gedrückt. Da dachte ich, wow, das ist ja wirkliches Geben, das beobachtet man normalerweise nicht. Das hat mich sehr beeindruckt.

Bildnachweis: LKBP / Barbara Fruth und Robin Loveridge

Britta Renner: Wir haben es ja praktisch so perfektioniert. Wir können soziale Identität quasi essen. Das fängt an bei Kaviar, da essen wir sozialen Status und Identität. Aus ernährungspsychologischer Sicht ist das ja kein zwingendes Lebensmittel – ich persönlich finde, es schmeckt auch nicht. Essen hat viele soziale Funktionen, die weit über die Energie oder Nährwerte hinausgehen.

Gibt es bei Bonobos eigentlich ein Festessen?

Barbara Fruth: Nicht in dem Sinne, dass es ein Datum gibt und sie da zusammenkommen. Es ist eher umgekehrt: Wenn es etwas besonders Gutes gibt, ist es vielleicht ein Fest. Aber das können wir nicht fragen.

Britta Renner: Aber machen sie dann andere Geräusche?

Barbara Fruth: Wenn sie sehr leckere Früchte oder große, monopolisierbare Nahrung haben, ist viel Aufregung da. Die ist aber nicht zwangsläufig positiv, da der Zugang zu Essen in freier Wildbahn ja auch immer Konkurrenz zwischen den Individuen auslöst. Es geht schließlich um die besten Plätze im Futterbaum und die besten Stücke des erlegten Wildtiers.

Festessen hat bei uns Menschen ja viele Komponenten, von der Einladung begonnen bis zum Abschluss…

© anrita/pixabay
Britta Renner: Was wir etwa an Weihnachten machen, ist, zum Essen einladen und teilen. Für uns ist es teilweise eine erhebliche Kränkung als Gastgebende, wenn unsere Gäste das Essen nicht annehmen. Der Ablauf von solchen festlichen Anlässen ist fast wie eine Theateraufführung. Wenn wir an die Sternenküche denken, dann geht es nicht darum, dass man hungrig ist. Da gibt es ganz klare Signale, wann man Essen darf oder besser aufhören sollte. Es gibt Bilder von Banketts der Queen Elizabeth, die hochritualisiert sind. Sie saß am Kopf des Tisches, man fing erst an, wenn sie angefangen hat, wenn sie aufhörte, war Schluss.
 

Welche Rituale gibt es beim gemeinsamen Essen?

Barbara Fruth: Bei den Bonobos gibt es die Bettelgesten. Individuen müssen sich anstellen – Handinnenfläche nach oben – und brauchen grünes Licht der Besitzerin, um Zugang zur Nahrungsquelle zu erlangen.

Bei uns ist Weihnachten sehr wichtig. Solche Rituale ermöglichen das Zusammenkommen und die Bekräftigung der gemeinsamen sozialen Identität. Wenn man jedoch implizite Regeln eines Essensrituals nicht kennt, ist dies vielen von uns unangenehm oder gar peinlich. Dies kann und wird durchaus genutzt, um Status oder Macht zu demonstrieren.

Britta Renner

 

Was bedeutet euch gemeinsames Essen?

Barbara Fruth: Essen ist was Schönes.
Britta Renner: Was sehr Schönes!

Barbara Fruth: Bei uns ist auch das gemeinsame Kochen ein wichtiger Punkt in der Familie. Es ist das Vergnügen, gemeinsam in der Küche zu sein und etwas zu entwickeln.
Britta Renner: Es gab eine Studie, die gezeigt hat, dass der meiste Gossip beim Essen ausgetauscht wird. Die soziale Funktion kann ich nur unterstreichen, Kaffeeküchen sind ein Beispiel, dort finden die kreativen Prozesse statt. Ich würde vermuten, dass sich diese Investition sehr lohnt.

Weitere Informationen zum Projekt "Collective Appetite" am Exzellenzcluster Centre for the Advanced Study of Collective Behaviour: Individual and collective appetite

Bildnachweis Titelbild: © Christian Ziegler / Wilde Bonobos teilen sich eine Anonidium mannii. Die Aufnahme entstand in der Demokratischen Republik Kongo.

 

Elisabeth Böker

Von Elisabeth Böker - 21.12.2022