Von Kopf bis Fuß

Dr. Jennifer Randerath untersucht das altersbedingte Entscheidungsverhalten im Bereich Motorik. Auf dieser Grundlage entwickelt ihre Nachwuchsgruppe in Zusammenarbeit mit den Kliniken Schmieder ein Rundumpaket für Schlaganfallpatienten.
© Nico Talenta

Der menschliche Körper verändert sich ein Leben lang. Was das im Einzelnen bedeuten kann, ist im Zukunftskolleg der Universität Konstanz spielend zu erfahren. „Life on the Line“ heißt das Spiel, das in Raum Y 329 für alle frei zugänglich ist, die das Thema Ageing mal von der mehr oder weniger spaßigen Seite angehen wollen. Das Spiel zeugt auch von Humor: Es gibt Spielkarten, mit denen man sich beispielsweise eine Thrombose einhandelt. Fünf Jahre Lebenszeit werden abgezogen. Mehr Freude versprechen Spielkarten wie die, auf der regelmäßiger Bauchtanz ein längeres Leben verheißt. Zwei Jahre zusätzlich darf man sich auf seinem Lebenskonto verbuchen.

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Die Psychologin Dr. Jennifer Randerath hat sichtlich Vergnügen an dem smarten Spieltisch, der vom „Medical Museion“ in Kopenhagen ausgeliehen ist. Das Thema Ageing gehört zu ihrem Forschungsfeld. Mit ihrem Team hat die Nachwuchsgruppenleiterin eine Reihe an Versuchen entwickelt, anhand derer sie zunächst jüngere und ältere Testpersonen in ihrem unterschiedlichen Entscheidungsverhalten hinsichtlich ihrer körperlichen Fertigkeiten charakterisieren kann. Ziel der Forschung der Arbeitsgruppe Randerath sind letztlich jedoch Menschen, die durch einen Schlaganfall körperliche und kognitive Einbußen erlitten haben.

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Wie verändert sich deren Entscheidungsverhalten? Lässt sich das Verhalten von Betroffenen trainieren, um ihnen somit ein Teil ihrer Eigenständigkeit zurückzugeben? Das sind Grundfragen, die das Team untersucht. Kann ich das Objekt dort hinten noch greifen, oder führt das möglicherweise zum Sturz? Für Schlaganfallpatienten kann es von großer Bedeutung sein, ob sie sich in ihren Fähigkeiten überschätzen und damit Risiken eingehen oder sich vermeidend verhalten und damit an Lebensqualität einbüßen. Es geht also auch um eine korrekte Risikoeinschätzung bei einfachen Alltagstätigkeiten.

Wahrnehmung, Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, aber auch Emotion, Motivation, Persönlichkeit und Verhalten sind bei neurologischen Erkrankungen wie zum Beispiel dem Schlaganfall häufig betroffen. Eine neuropsychologische Diagnostik untersucht zunächst die kognitiven und emotional-affektiven Funktionen und deren Auswirkungen auf das Verhalten. Danach bietet die Neuropsychologie eine Reihe von Therapiemöglichkeiten, die sich an den individuellen Rehabilitationszielen der Patienten orientieren. Übergeordnete Ziele können beispielsweise sein, die kognitive Leistungsfähigkeit wiederherzustellen beziehungsweise zu verbessern und die Beeinträchtigungen im Empfinden und Erleben aufzulösen beziehungsweise zu minimieren.

„Wie können neurologische kognitive Dysfunktionen beeinflussen, ob wir eine Handlung mit dem Körper durchführen können oder nicht, und was lernen wir daraus?“, so umschreibt die Psychologin ihre Forschungsfrage. Um solche Dysfunktionen identifizieren zu können muss notwendigerweise das Entscheidungsverhalten bei gesunden Menschen besser verstanden werden. Wie es das Spiel im Zukunftskolleg, dem Jennifer Randerath seit 2015 als Marie Curie Research Fellow angehört, in seinem Verlauf korrekt abbildet, sind die Fähigkeiten eines Menschen von Alter und Kondition abhängig. Ein einfaches Beispiel: Die Entscheidung, ob es jemand schafft, angesichts eines sich nähernden Autos noch die Straße zu überqueren, hängt maßgeblich davon ab, ob die Person jung und sportlich ist oder am Gehstock an der Straßenkreuzung steht.


„Unter Berücksichtigung der jeweiligen Situation und den körperlichen Bedingungen eine gute Entscheidung treffen“, fasst Jennifer Randerath diese motorisch-kognitive Fähigkeit zusammen. Um die altersabhängige „motorische Kognition“ von gesunden Menschen zu ermitteln, hat sich ihre Nachwuchsgruppe zum Beispiel von den wissenschaftlichen Werkstätten einen Tisch bauen lassen, auf der sich Objekte auf Schienen verschieben lassen. Die Versuchspersonen müssen entscheiden, ob sie am Tisch sitzend ein Objekt noch erreichen können. Das Setting entspricht etwa der Alltagssituation, intuitiv zu beurteilen, ob eine Tasse noch in Reichweite steht.


Ein anderer Test hat in seinem Alltagsäquivalent auch seine komischen Momente. Wie entscheiden wir, ob unsere Hand noch in eine Öffnung passt? „Das ist wie: Kann ich den Brief noch aus dem Briefkastenschlitz fischen, oder sollte ich lieber den Briefkastenschlüssel holen?“ Die Wissenschaftlerin zeigt dazu einen Zeitungsartikel, auf dem ein Mann zu sehen ist, der bei dieser Entscheidung daneben lag und infolge dessen mithilfe der Feuerwehr aus dem Briefkasten befreit werden musste.

Dr. Jennifer Randerath ist seit 2015 Marie Curie Research Fellow am Zukunftskolleg, von 2015 bis 2016 hatte sie eine Vertretungsprofessur für Neuropsychologie am Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz. Zusätzlich unterstützt werden die Arbeiten der Gruppe durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie durch das Konstanzia Programm des Gleichstellungsreferats und dem Stipendienprogramm der Universität Konstanz. Zuvor forschte die Nachwuchswissenschaftlerin am Klinikum München Bogenhausen (2006 bis 2009) und in den USA an den Universitäten Oregon (2009 bis 2011) und Missouri (2011 bis 2014).


Unterm Strich ist es nicht so, dass ältere Versuchspersonen beim Urteilen über ihre körperliche Geschicklichkeit immer vorsichtiger wären. Tatsächlich hängt es von der konkreten Art der Testaufgabe ab, wer „konservativer“ oder „liberaler“ entscheidet, die Älteren oder die Jüngeren. „Passende Tests zu entwickeln stellt eine Herausforderung dar“, sagt die Psychologin, der es darum geht, die Versuchsanordnung so kontrolliert wie möglich zu konzipieren, um die unterschiedlichen Perspektiven der Studie klar voneinander trennen zu können. Auch müssen Einschränkungen aufgrund des gesunden Alterns von krankheitsbedingten Ausfällen abgegrenzt werden. Dass ältere Menschen häufiger hinfallen, könnte mit falschen Entscheidungen aufgrund altersbedingter körperlicher und kognitiver Einbußen zu tun haben.


Bei Schlaganfallpatienten werden die Testergebnisse zusammen mit ihren neurologischen Korrelaten, den strukturellen Hirnbildern der Patienten, ausgewertet. Dazu werden Aufnahmen anhand von Magnetresonanztomografie und Computertomografie genutzt. Die Analysen zeigen Zusammenhänge von dysfunktionalem Verhalten und der Schädigung bestimmter Hirnregionen. Von Hirnschädigungen insbesondere der linken Hirnhälfte kann auch die sogenannte Objektinteraktion betroffen sein. Lisa Finkel, Doktorandin in der Nachwuchsgruppe von Jennifer Randerath, hat das Phänomen untersucht, dass einige der Schlaganfallpatienten nicht mehr wissen, wie mit bestimmtem Werkzeug umzugehen ist. Beispielsweise können diese Patienten nicht pantomimisch zeigen, wie ein Bügeleisen zu benutzen ist. Für ihre Arbeit zu dem Thema hat die Psychologin den Stiftung-Schmieder-Förderpreis 2018 für Neurologische Rehabilitation erhalten.

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Eine Störung der Ausführung willkürlicher zielgerichteter und geordneter Bewegungen bei intakter motorischer Funktion wird als Apraxie bezeichnet. Häufigste Ursache ist ein Schlaganfall. Die Betroffenen können einen ihnen eigentlich bekannten Gegenstand und seine Bedeutung nicht mehr verknüpfen: Sie wissen also zum Beispiel nicht, was sie mit einer Gabel anfangen sollen. Die Folgen sind schwerwiegend, da die Selbstständigkeit eingeschränkt wird und unterstützende Hilfsmaßnahmen notwendig werden. Bei rund 270.000 Schlaganfall-Patienten jährlich in Deutschland sowie rund einer Million, die an Folgen von Schlaganfällen leiden, ist diese Form der Beeinträchtigung von erheblicher Bedeutung.


Die Kliniken Schmieder sind Kooperationspartner für die Nachwuchsgruppe von Jennifer Randerath. Im Rahmen des Lurija-Instituts für Rehabilitationswissenschaften und Gesundheitsforschung führen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Konstanz gemeinsam mit dem neurologischen Fach- und Rehabilitationskrankenhaus Studien durch. Das Team von Jennifer Randerath setzt für die Arbeit mit Patienten der Kliniken Schmieder in Allensbach und Konstanz diagnostische Tests wie die beschriebenen ein. Nach der Diagnose erfolgt eine Bedarfsanalyse, auf deren Basis Trainingsansätze erarbeitet werden. „Wir integrieren auch Inspiration von den Ergotherapeuten, um ein Rundumpaket für Patienten zu entwickeln“, sagt Jennifer Randerath. Lisa Sophia Friedrich-Schmieder, Geschäftsführerin der Stiftung Schmieder für Wissenschaft und Forschung, sagt: „Die Forschung von Frau Dr. Randerath widmet sich einem Kernthema der neurologischen Rehabilitation. Sie ist sehr wertvoll für die wissenschaftlich fundierte Weiterentwicklung der therapeutischen Arbeit.“

© Kliniken Schmieder

Um die Neurologische Rehabilitation wissenschaftlich fundiert weiter zu entwickeln, gründeten die Kliniken Schmieder gemeinsam mit der Universität Konstanz 1997 das Lurija-Institut. Es sichert den Transfer von der Forschung in die Praxis, um Diagnostik und Therapie für neurologische Patienten fortlaufend zu verbessern. Die Fachbereiche Psychologie, Sportwissenschaften und Sprachwissenschaften der Universität Konstanz arbeiten eng zusammen mit wissenschaftlich tätigen Ärzten und Therapeuten der Kliniken Schmieder. Weitere Forschungskooperationen des Lurija-Instituts bestehen u.a. mit den Universitätskliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen, Mannheim und Magdeburg. Außerdem verleiht das Lurija-Institut jährlich am Dies academicus den Stiftung-Schmieder-Preis an Nachwuchswissenschaftler der Universität Konstanz.

Dr. Maria Schorpp/Simone Müller

Von Dr. Maria Schorpp/Simone Müller - 21.01.2019